Ich betrete die Produktionshalle mit einem Tablet in der Hand. Über dieses kann ich in Echtzeit die Status aller additiven Fertigungsmaschinen, den Betriebszustand der Peripheriegeräte und die Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen der Produktion abrufen sowie die Lagerzustände der Werkstoffe kontrollieren. Meinen Weg zu den abgetrennten Metalllaserschmelzanlagen kreuzen autonome Flurförderfahrzeuge, die Werkstoffe und Bauteile in konditionierten und arbeitssicheren Behältern transportieren. An einer Metalllaserschmelzanlage wird über ein digitales System der automatisierte Rüstvorgang gesteuert, während an der Anlage daneben die vier Laser zeitgleich 40 Bauteile in Serie fertigen. Im Nachbearbeitungsbereich werden die Bauteile spezifisch und adaptiv parametriert entpulvert, wärmebehandelt und oberflächengestrahlt. Roboter übernehmen diese Arbeitsschritte weitestgehend automatisiert, Cobots unterstützen die Mitarbeiter bei manuellen Prozessen. Die Qualitätssicherung erfolgt in jedem Prozessschritt inline und digital. Die autonomen Flurförderfahrzeuge transportieren die nachbearbeiteten Bauteile zum Versand, während ich auf dem Tablet den Weg der Bauteile in meiner smarten Produktion nachverfolgen und den Qualitätsreport erstellen kann, der für die Kunden digital abrufbar ist.
Hemmschuh für die Serienfertigung ist die industrielle Reife
Dies ist leider – noch – ein Zukunftsszenario der additiven Serienfertigung. Bisher wurde und wird die additive Fertigung erfolgreich insbesondere bei der Fertigung von Prototypen und kundenindividuellen Bauteilen eingesetzt. Doch in den letzten Jahren steigt das Verlangen der Industrie, die additive Fertigung auch für Klein- oder sogar Grossserien einzusetzen. Treibendes Potenzial ist hierfür die hohe geometrisch-konstruktive Freiheit, funktionsintegrierte oder leichtbauoptimierte Bauteile flexibel und wirtschaftlich zu fertigen. Die industrielle Reife der additiven Fertigung und der damit verbundenen Prozesskette ist heute jedoch noch nicht dort angekommen, dass sie für die industrielle Serienfertigung angewendet werden kann. Werden und bleiben Sie skeptisch, wenn in Hochglanzbroschüren die additive Fertigung als serienfertigungstauglich und vollkommen industriell anwendbar angepriesen wird. Hemmnisse sind dabei nicht nur technischer Art, wie mangelnde Prozessstabilität, Reproduzierbarkeit der Qualität und Prozesskettenrobustheit. Auch mangelnde Wirtschaftlichkeit und Produktivität bei Grossserien, aufwendige Qualitätssicherung und Zertifizierung sowie rechtliche Unsicherheiten bei der Produkthaftung limitieren derzeit die Einsatzbereiche. Aufgrund mangelnder Standards ist für eine technisch und wirtschaftlich erfolgreiche Anwendung der additiven Fertigung ein hohes Mass an anlagenspezifischem Prozess- und Technologiewissen notwendig. Zahlreiche Hochschulen und Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen arbeiten international in zukunftsweisenden Forschungs- und Entwicklungsprojekten, die additive Fertigung in die industrielle Serienfertigung zu führen. Stichworte hierbei sind industrietaugliche Prozesse, Anlagen und Steuerungen – die Umsetzungsmöglichkeiten sind dabei mannigfaltig:
- So muss unter anderem die Robustheit der Prozesse und Anlagen durch Automatisierungskonzepte erhöht werden, um die manuellen und damit nicht standardisierten Prozessschritte zu reduzieren.
- Darüber hinaus muss die Reproduzierbarkeit der Bauteilqualität durch beispielsweise Inline-Qualitätsmonitoring über der gesamten Prozesskette ermöglicht werden, ohne dass hierfür bei einem inhomogenen Anlagenpark teilweise mehrfach in aufwendige und kostenintensive Software und Peripherie investiert werden muss.
- Ein weiteres Handlungsfeld ist die Sicherstellung der Prozess- und Anwendersicherheit über der gesamten Prozesskette, um den industriellen Richtlinien und Regelwerken entsprechen zu können.
Schritt für Schritt in die industrielle Serienfertigung
Auch wenn die additive Serienfertigung noch in der Ferne scheint, ist es strategisch sinnvoll, sich bereits heute auf den Weg zu machen. Use-Cases insbesondere von Grossunternehmen zeigen, dass die Serienfertigung als erster Schritt in der additiven Fertigung gelingen kann. Für mittelständische Unternehmen ist dies aber für eine effiziente und nachhaltige Implementierung der additiven Fertigung für einen mittel- und langfristigen Erfolg intern im Unternehmen und bei den Kunden nicht ratsam. Auch wenn sich verschiedene Herangehensweisen und Implementierungskonzepte für die industrielle additive Fertigung oft substanziell unterscheiden – das Credo lautet: Starten Sie zunächst klein und versuchen Sie nicht, innerhalb weniger Wochen die additive Fertigung als disruptive Technologie für Ihre Produktion einzusetzen. Für eine nachhaltige und effiziente Implementierung der additiven Fertigung im Unternehmen werden in Bild 1 folgende Eckpunkte als Leitmodell vom Einstieg in die additive Fertigung bis zur Serienfertigung von hochkomplexen Bauteilen empfohlen. Suchen Sie den Kontakt zu Anwendern der additiven Fertigung oder holen Sie sich Unterstützung von Beratungsunternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die Sie mit realen Anwendungen der additiven Fertigung inspirieren. Use-Cases bieten die Möglichkeit, die Potenziale und Chancen, aber auch die Herausforderungen der additiven Fertigung, deren Prozesse und Technologien kennenzulernen. Dabei sollten nicht nur hochtechnisierte funktionsintegrierte, leichtbauoptimierte Multimaterialbauteile betrachtet werden, sondern auch einfach umsetzbare, aber dennoch wirtschaftlich interessante Anwendungen – die sogenannten «Low-Hanging Fruits».
Mit Technologien vertraut machen
Die additive Fertigung bietet inzwischen eine Vielzahl von verschiedenen Verfahren und Technologien sowie diverse Werkstoffe, welche damit verarbeitet werden können. Messen sowie Veranstaltungen bieten die Möglichkeit, sich mit den diversen Technologien der additiven Fertigung vertraut zu machen. Abhängig von Ihren Vorstellungen, Ideen oder konkreten Anwendungen können diese Verfahren und Technologien abhängig derer spezifischen Eigenschaften und Umsetzungsmöglichkeiten analysiert werden. Auch für Unternehmen, die keine Kunststoffe als Werkstoff für deren Produkte verarbeiten, kann die Investition in eine kostengünstige und kunststoffverarbeitende additive Fertigungsmaschine der technologische Einstieg in die additive Fertigung bilden. Mittels dieser Maschinen können die ersten Gehversuche in der additiven Fertigung gegangen werden, ohne dass hohes Prozess- und Technologiewissen notwendig ist.
Additive Denkweise verinnerlichen
Für die wirtschaftliche und nachhaltige Implementierung und Anwendung der additiven Fertigung muss eine sogenannte «additive Denkweise» in Ihrem Unternehmen verinnerlicht werden. Durch dieses Mindset kann ein additiver Mehrwert generiert werden, welcher die Integration der grundlegenden Potenziale der additiven Fertigung, wie die Funktionsoptimierung und -integration sowie die Leichtbauweise, in Ihre Anwendungen ermöglicht. Für die Sensibilisierung für die additive Denkweise bietet sich ein Bottom-Up-Ansatz an. Über diesen Ansatz «Additive@ Shopfloor» werden kostengünstige Materialextrusionsanlagen in der Produktion am Band, in der Montage oder in der Prototypenfertigung aufgestellt und damit allen Mitarbeitenden zur Verfügung gestellt. Dadurch besteht nur eine geringe Hemmschwelle für die Ideengenerierung und damit Entwicklung von Anwendungen, die im Unternehmen für die Produktion (beispielsweise Montagehilfen oder Produktionshilfsmittel) oder für die Endprodukte (beispielsweise Konstruktionsoptimierungen) einen wirtschaftlichen Mehrwert leisten. Der «Additive@Shopfloor»-Ansatz ermöglicht die frühzeitige Sensibilisierung für die Potenziale der additiven Fertigung und damit eine Erhöhung der Akzeptanz neuer Fertigungsverfahren sowie letztendlich die Schaffung von technisch und wirtschaftlich erfolgreichen Innovationen. Nach der Anwendung und Bewertung einfacher Technologien sowie der Umsetzung der additiven Denkweise steht der Bild 2: Ganzheitliche und interdisziplinäre Betrachtungsweise der additiven Serienfertigung. Schritt in eine Serienfertigung an. Dabei muss schon im Planungsprozess der Implementierung die ganze Prozesskette gesamtheitlich betrachtet werden. Dies beginnt bei der Wareneingangsprüfung über die Materiallagerung und die Bauteilfertigung bis zur Nachbearbeitung – der sogenannte Pre-, In- und Post-Prozess. Zusätzlich müssen unter anderem das Qualitätsmanagement sowie die Anwendersicherheit und umweltgerechte Reststoffentsorgung sichergestellt werden. Darüber hinaus bedeutet die Investition in eine additive Serienfertigung auch ein nachhaltiges Innovations- und Change Management in der Produktion, in der strategischen Ausrichtung sowie im Geschäftsmodell des Unternehmens und sollte daher ganzheitlich und interdisziplinär betrachtet werden.
Ganzheitliche und interdisziplinäre Betrachtungsweise (Bild 2)
In KMU sind häufig die Unsicherheit und Innovativität mit Wissens- und Wollensbarrieren verbunden und behindern damit die Anwendung der additiven Fertigung. Neuartige Wertschöpfungsketten und globale Wertschöpfungsnetzwerke sind vorstellbar, scheitern aber zurzeit zumeist an der industriellen Umsetzbarkeit. So wirft die fundamentale Veränderung der additiven Fertigung zahlreiche technische und nichttechnische Fragestellungen in der Materialentwicklung, der Implementierung und Anwendung sowie zum Innovations- und Change Management der Interaktions- und Arbeitsbeziehungen in ihren Eco-Systemen auf.
Weitere Informationen unter: www.lup.uni-bayreuth.de