Entscheidungsträger in der Industrie werden derzeit geradezu überflutet von Angeboten zum Thema Industrie 4.0: Von Konferenzen über Beratungsdienstleistungen bis hin zu umfassenden Angeboten einschlägiger Technologieanbieter. Im Vordergrund stehen dabei oftmals die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen, Produkten und Services, wobei die Verbesserung der Produktivität und Flexibilität als die wichtigsten Vorteile angesehen werden. Die aufgezeigten Visionen einer sich selbst organisierenden und optimierenden Produktion sprengen jedoch den Rahmen der Möglichkeiten von KMU.
Von «Technologie sucht Anwendung» hin zu «Problem sucht Lösung» Die Nutzenversprechen von Industrie 4.0 sind zahlreich: Über Steigerung der Produktivität, Schaffung von Zusatznutzen für Kunden bis hin zur Erschliessung neuer Geschäftsfelder ist alles dabei, allerdings fehlen die Anknüpfungspunkte für die Realisierung dieser Nutzenversprechen. Grund dafür ist die Ausrichtung von Investitions- und Entwicklungsaufwendungen an Technologien statt an konkreten Anwendungsfällen.
Als Folge herrscht Zurückhaltung und grosse Verunsicherung aufgrund einer heterogenen und unübersichtlichen Angebotslandschaft von Industrie-4.0-Lösungen. Dies bestätigt eine Befragung der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie zur Umsetzung von Industrie 4.0, aus der hervorgeht, dass Industrie 4.0 bei Schweizer KMU noch kein flächendeckendes Thema ist und erst in einzelnen Bereichen zum Tragen kommt. Als Hauptgrund dafür wird der unklare Nutzen genannt. Nötig ist ein Perspektivenwechsel von «Technologie sucht Anwendung» hin zu «Problem sucht Lösung». Folgender Dialog des IT-Verantwortlichen mit dem CEO eines automobilen Werkzeugbaus ist symptomatisch: Leiter IT: «Mit Industrie 4.0 werden die Werkzeuge selbst die nächsten Bearbeitungsschritte anfordern und sich eigenständig untereinander organisieren!» Antwort CEO: «Ich habe andere Probleme. Sieben Personen sind fortlaufend damit beschäftigt, Teile zu suchen! Wenn wir da etwas Zeit einsparen könnten, wäre ich schon äusserst zufrieden!»
Der realistische Weg: Top-down vs. Bottom-up
Das Beispiel zeigt: Industrie 4.0 ist kein Selbstzweck – sie erfordert eine konsequente Orientierung an Problemstellungen und Zielgrössen der Produktion. Der «Grüne-Wiese»-Ansatz funktioniert nicht, aber auch durch Nachrüsten von bestehenden Anlagen allein lässt sich eine vollautomatisierte und smarte Produktion nicht umsetzen. Erforderlich ist eine Langfriststrategie mit evolutionärer Entwicklung, die es ermöglicht, neue Technologien und Funktionen in bestehenden Teilbereichen bereits zu nutzen, während neue Anlagen und Fabriken automatisiert, digitalisiert und vernetzt geplant werden.
Ein Stufenmodell hilft bei der schrittweisen Umsetzung einer Smart Factory. Dabei wird der Fokus auf Einzelprojekte in konkreten Anwendungsfällen und nicht auf ganzheitliche Universallösungen gelegt. Wichtig ist, die top-down entwickelte Vision – das «Big Picture» – nie aus den Augen zu verlieren, während dieses Bottom-up «Stufe für Stufe» umgesetzt wird.
Beispiel «Intelligentes Presswerkzeug»: Audi nutzt seit einigen Jahren Sensorik, um den Prozess im Werkzeug sichtbar zu machen – um zu erkennen, wie das Material fliesst und welche Kräfte auf das Blech einwirken. Die Daten zeigen, ob die Prozesse in den schmalen Fenstern bleiben, für die sie ausgelegt sind. Falls nicht, steuert eine Aktorik im Werkzeug die Verteilung der Kräfte selbsttätig um. Damit wird eine Präzision sichergestellt, die im Bereich von Hundertstelmillimetern liegt. Diese Lösung entspricht der Ebene 3 im Stufenmodell. Mit dem intelligenten Werkzeug 2.0 wird nun die Stufe 4 erreicht, nämlich die Regelung am Serienwerkzeug mit Datenübertragung in den Karosseriebau. Die für ein bestimmtes Blechteil charakteristischen Daten werden automatisiert erfasst und weitergeleitet. Auf Basis dieser Informationen werden die Karosseriebauanlagen automatisiert an die Blechteilcharakteristika angepasst.
Ein sinnvolles Vorgehen: Erst «lean», dann «smart»
Um das Thema gerade in KMU systematisch anzugehen hat sich folgendes Vorgehen in zwei Projektphasen bewährt. Die Phase 1 steht unter dem Motto: «erst lean». Noch komplett unabhängig von Industrie-4.0-Lösungsansätzen und Technologien werden die Performancehebel in der Produktion identifiziert. Dies können zum einen relevante Problemstellungen entlang der Kernprozesse und zum anderen die für die Strategieumsetzung kritischen Zielgrössen (KPIs) sein. Das Resultat der Phase 1 sind Industrie-4.0-relevante Fragestellungen. In Phase 2 werden, gemäss dem Motto «Problem sucht Lösung» strukturiert, «smarte» Lösungsansätze zur Beantwortung dieser Fragen abgeleitet. Dazu eignet sich die folgende Matrix. In der Vertikalen werden die in Phase 1 identifizierten relevanten Problemstellungen beziehungsweise die strategisch zu verbessernden KPIs aufgelistet. Im Beispiel in Bild 3 sind dies die grossen «Pains» der Audi-Produktion, zum Beispiel zu geringe Anlagenverfügbarkeit, Störungen wie Bandstillstand oder hoher Prüfaufwand. Horizontal sind generische Problemlösungsstrategien dargestellt – von der vollständigen Elimination des Prozessschritts bis zur Reduktion der Auswirkungen des Problems. In die entsprechenden Kreuzungsfelder werden dann mögliche Industrie-4.0-Lösungstechnologien eingetragen.
Im Beispiel bietet die «Virtuelle Aufbausimulation» eine Lösung, um das Problem «Nacharbeit/Ausschuss aufgrund Masshaltigkeit der Bauteile» bereits im Vorfeld zu erkennen und zu beheben. Wird dieser Ansatz als interessant angesehen, werden in einem nächsten Schritt der Reifegrad der Technologie beurteilt, passende, bereits in der Industrie realisierte Anwendungsfälle als Beispiel gesichtet und – im positiven Fall – ein für das Unternehmen spezifischer Projektantrag formuliert. Die «Virtuelle Aufbausimulation» wird heute unter anderem zur Optimierung der Passgenauigkeit von Scheinwerfern und Karosserien verwendet, womit die Nacharbeit
massiv gesenkt werden konnte.
Fazit: Es ist eigentlich «nur» konsequentes Innovationsmanagement
Nicht das «Big Picture», sondern der «nächste sinnvolle Schritt» ist gerade für KMU die grosse Herausforderung. Das dargestellte Vorgehen hilft dabei, den omnipräsenten, aber häufig nur schwer greifbaren Begriff «Industrie 4.0» tatsächlich auf den Shopfloor zu bringen. Die Prinzipien eines modernen Innovationsmanagements gelten auch hier. Und jeder erfolgreich umgesetzte Anwendungsfall stärkt das Vertrauen, den eingeschlagenen Weg hin zur Smart Factory konsequent weiterzugehen!
Dr. Harald Brodbeck, Dozent für Smart Factory im Studiengang MAS Industrie 4.0 an der FFHS sowie Leiter Industrie Schweiz bei Horváth & Partner AG
Sabrina Ernst, Business Development Industrie Schweiz im Team Strategy, Sales and Innovation bei Horváth & Partner AG
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